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Grundeinkommen und Rechnen: „Die Welt lässt sich nicht berechnen“

27. November 2011 | Archiv | 0 Kommentare



„Bedingungsloses Grundeinkommen?“

„Wurde schon ausgerechnet, ob das geht? Nein? Dann beschäftige ich mich nicht damit.“

„Wenn Sie das nicht vorrechnen können, dann geht das auch nicht.“

„80 mio. Bürgerinnen und Bürger mal 1500€ ? Das ist doch nicht Ihr Ernst?“

„Es gibt keine Berechnung die mich überzeugt, daher unterstütze ich Grundeinkommen nicht.“

In vielen Gesprächen und Diskussionen, die ich erlebe, oder im Netz mitverfolge, liegt ein großer Fokus auf der Berechenbarkeit.
Manchmal wird das Thema zwar als interessant empfunden, gleichzeitig aber als unseriös eingeschätzt wegen der fehlenden, klaren Berechnung.

So ein Ruf nach Berechenbarkeit zieht oft viel Aufmerksamkeit auf sich und wirkt verantwortungsvoll und seriös.
Seriös ist was schon gerechnet wurde.
Berechenbarkeit als Garant für Umsetzbarkeit?

Heute bin ich auf folgenden Artikel in Brand eins gestoßen:

„Die Welt lässt sich nicht berechnen“

„Der Hamburger Mathematikprofessor Claus Peter Ortlieb über den mathematischen Blick auf die Welt, den Missbrauch seines Fachs durch die Volkswirtschaftslehre und die Frage, ob ein Barbier sich selbst rasiert oder nicht.“

Auszüge:

brand eins: Inwiefern hat die Mathematik unsere Sicht der Welt verändert?
Claus Peter Ortlieb: Sie hat eine ungeheure Bedeutung. Heute macht man sich das nicht mehr klar, weil wir die moderne Beschreibung der Welt verinnerlicht haben und für selbstverständlich halten. Doch der mathematische Blick ist letztlich erst im 17. Jahrhundert entstanden, als Galilei die These aufstellte, die gesamte Welt funktioniere nach mathematischen Gesetzen und lasse sich mit der Sprache der Mathematik beschreiben, erklären und berechnen. In dieser Zeit ist von den Mathematikern sehr vieles zum ersten Mal gemacht und gedacht worden, was wir bis heute in Mathematik und Naturwissenschaften machen und denken. In der Vormoderne kam die Gesellschaft ohne Gott und die Erklärungsmuster der Religion nicht aus. An deren Stelle trat die mathematisch-naturwissenschaftliche Betrachtung der Welt, die Gott zur Privatsache machte. Inzwischen ist die mathematisch-naturwissenschaftliche Deutung der Dinge konkurrenzlos. Was nicht berechtigt ist.

Warum?

Weil es natürlich ein Irrtum ist, zu glauben, man könne die gesamte Welt auf diese Weise erfassen.

Das sagen Sie als Mathematiker?

Das sage ich als Mathematiker.“

……

Die Welt bleibt also unberechenbar?

Selbstverständlich bleibt sie das. Das bedeutet nicht, dass der mathematische Blick auf die Welt per se Blödsinn ist, ganz im Gegenteil: Er ist eine echte Erfolgsgeschichte, und wir verdanken ihm viele Erkenntnisse, unsere gesamte wissenschaftliche und technische Entwicklung und die Art, wie wir heute leben. Doch die Erfolgsgeschichte ist gleichzeitig das Problem. Denn aus ihr entsteht nicht nur die Illusion zu glauben, man könne alles auf diese Weise erfassen und entschlüsseln, sondern man gerät durch diese Illusion auch noch in den Zwang, die Welt in diese Form zu pressen. Und das ist gefährlich.

Warum gefährlich?

Weil es dazu führt, dass Entscheidungen getroffen werden, die in das Leben von Menschen eingreifen. Die mathematische Methode ist längst von Wissenschaftlern fast aller Disziplinen übernommen worden und wird in allen möglichen Bereichen angewandt, wo sie eigentlich nichts zu suchen hat. Teile der Gesellschaftswissenschaften etwa begreifen sich als eine Art Sozialphysik und glauben, dass das Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft nach bestimmten mathematischen Gesetzen funktioniert, die es zu erkennen gilt. Dummerweise sind gerade dort die Voraussetzungen der mathematischen Methode erkennbar nicht erfüllt. Man kann in den Gesellschaftswissenschaften nämlich keine Experimente machen, durch die Mathematik und Wirklichkeit ja erst miteinander verbunden werden. In manchen Sozialwissenschaften mag das nicht so gravierend sein, sofern dort das Verhalten von Menschen nur im statistischen Mittel beschrieben und eingeräumt wird, dass der Einzelne davon abweichen kann. Die eigene methodische Begrenztheit wird also erkannt und eingestanden. Die herrschende Volkswirtschaftslehre etwa macht das nicht. Sie missbraucht die Mathematik.

Was meinen Sie damit?

Anders als in anderen Sozialwissenschaften wird die begrenzte Aussagekraft nicht konzediert, sie wird nicht einmal mehr erkannt. Die herrschende Volkswirtschaftslehre ist eigentlich eine bloß noch mathematische Disziplin, sie erstellt mathematische Modelle, die man real nie nachbauen könnte und die trotzdem verwendet werden, um auf deren Grundlage Berechnungen anzustellen und komplexe ökonomische Vorgänge auf wenige Zahlen zu reduzieren. Auch dort wird versucht, das Reale mit dem Unmöglichen zu beschreiben. Im Prinzip ist das derselbe Vorgang, nur kann man die Ableitungen aus Annahmen des mathematischen Modells, das ja nichts anderes ist als ein fiktiver Idealzustand, nicht im Experiment mit der Wirklichkeit verbinden, so, wie es die Naturwissenschaften können. Schon aus diesem Grund ist es legitim zu bezweifeln, dass man in der Volkswirtschaft überhaupt Mathematik einsetzen darf. Dazu kommt, dass ökonomische Prozesse letztlich von Menschen gemacht werden und nie naturgesetzlich ablaufen. Menschen haben immer Entscheidungsfreiheit. In den Naturwissenschaften ist es möglich, von Gesetzmäßigkeiten auszugehen und Prozesse eindeutig determinierbar zu beschreiben, wenn ich ihre Bedingungen kenne. Sobald der Mensch ins Spiel kommt, ist das anders, erst recht, wenn sein Verhalten im komplexen gesellschaftlichen Raum betrachtet wird. Geschichte wird gemacht. Sie ist kein Naturprozess, der einfach so abläuft. Die neoklassische Lehre blendet das aus und kommt zu absurden Ergebnissen.

Zum Beispiel?

…………“

„Claus Peter Ortlieb, 64, ist Professor für angewandte Mathematik an der Universität Hamburg. Der Schwerpunkt seiner Arbeit ist die mathematische Modellbildung. Er ist Mitautor des 2009 erschienenen Fachbuchs „Mathematische Modellierung – Eine Einführung in zwölf Fallstudien.“

Herzlichen Dank für dieses Interview!

brand eins 11/2011

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